1972

Erste Debatte „Zur Sozialen Lage der Obdachlosen“ im Hessischen Landtag

Die Forderung der neuen Arbeitsgemeinschaft nach umfassenden Interventionskonzepten für die „sozialen Brennpunkte“ mit einer Orientierung an individuellen, sozialen und strukturellen Problemlagen, zeigt auch bei den politisch Verantwortlichen Wirkung: Im Hessischen Landtag findet am 15. Juni 1972 eine wegweisende Debatte „Zur sozialen Lage der Obdachlosen“ statt, der 1973 der Erlass „Hilfen für Obdachlose, Grundsätze zur Verbesserung der Lage der Obdachlosen in Hessen“ folgt.
Aus der Rede der SPD-Abgeordneten Dorothee Vorbeck, die mit ihrer Fraktion die Große Anfrage „Zur Sozialen Lage der Obdachlosen“ stellte:
„Die SPD-Fraktion ist sich bewußt, daß sie mit ihrer Großen Anfrage zur Situation der Obdachlosen ein Thema berührt, das unter einer starken Tabuisierung stand und noch steht. Noch gibt es wenige, die überhaupt wissen, wie diese Menschen, die wir Obdachlose nennen, leben, wie ihre Unterkünfte, die eben deshalb Getto-Charakter haben, aussehen, was dort geschieht. Die Probleme dieser sozialen Randschicht, ja sogar ihre Existenz werden […] von der übrigen Gesellschaft verdrängt, man schirmt sich gegen Informationen über diesen Bereich ab. Dem entspricht die geografische und städtebauliche Situation der Obdachlosenasyle am Rande der Städte, zwischen Industriemüll, an häßlichen Verkehrswegen, in jedem Falle außerhalb des Gesichtsfeldes der übrigen Bevölkerung, die so auch optisch eine Abschirmung erhält. […]
Wenn wir […] heute hier die Debatte über dieses Problem, über Versäumtes und über gesellschaftspolitisch Notwendiges führen, dann wird das, so hoffe ich, dazu beitragen, dieses Tabu abzubauen, diese Abschirmung zu durchbrechen, Vorurteile zu beseitigen. Das ist auch unsere Verpflichtung. Wir sind privilegiert durch Bildung und gesellschaftlichen Status. Daraus ergibt sich, daß wir alles tun müssen, dies durch erhöhtes Engagement auszugleichen. Die inzwischen verfügbaren, gerade uns verfügbaren wissenschaftlichen Analysen und Handlungshilfen erleichtern uns diese Verpflichtung, machen unser verantwortliches politisches Handeln aber um so dringlicher.“